ZEIT UND GELD
Zufallsbekannte oder
Herkunftsverwandte?
"Zeit
ist Geld" - abgegriffen wie eine Münze erscheint diese nahezu hundert
Jahre alte Beziehung zweier Begriffe, deren Knappheitsbeziehung Jochen Hörisch
in seiner Poesie des Geldes aufs Anschaulichste herausgearbeitet hat, und die
beide in ungeahntem Ausmaß auch unser heutiges Leben dominieren. Doch wie
selbst die abgegriffenste Münze durch ihren Prägestempel beglaubigt wird, so
ist auch hier zu fragen: was macht sie glaubhaft, diese unglaubliche Beziehung,
daß sie sich so behaupten und so behauptet werden konnte?
Dieser
Satz wird in Szene gesetzt in einer Welt, in der beide, Zeit und Geld,
regieren. In dieser Welt hat Zeit eine bestimmte charakteristische Struktur,
die sich in den Uhren verkörpert. Sie fließt gleichmäßig dahin, in stets sich
selbst äquivalenten Abschnitten, getrennt vom Raum, getrennt von den Objekten
im Raum und gänzlich unbeeinflusst von dem, was wir über sie reden. Die Unabhängigkeit
sowohl vom Raum als auch von den Dingen im Raum gibt diesem Konzept von Zeit
den Anschein des Universalen: sie muß notwendigerweise in China dieselbe
Geltung haben wie in Europa.
In
dieser Welt erhebt ein weiteres Konzept Anspruch auf Universalität: die Ja/Nein-Logik.
Etwas ist entweder so oder so, Tertium non datur. Sie charakterisiert das rauhe
Geschäftsleben, sie besetzt aber auch den innersten Kern des klassischen
Denkens der Naturwissenschaftler, die mit logischer Strenge ihre Experimente
auswerten. Das chinesische Yin-Yang oder eine Hegelsche Dialektik sind in
dieser Welt schlecht angesehen.
Dieses
Denken wird von verschiedenen Seiten in Frage gestellt. Einerseits von der
modernen Physik. Andererseits von Kulturen wie der chinesischen, in denen sich
nicht nur ein völlig anderer Zeitbegriff entwickelte, sondern ein komplett
anderes Denken. Bedrohlich für das klassische europäische Denken wird es in dem
Moment, wo sich herauskristallisiert, daß die Grundlagen des Denkens der
modernen Physik nahezu 1:1 korrespondieren mit den Grundlagen des traditionellen
chinesischen Denkens. Ab diesem Moment ist zu fragen: unter welchen Umständen
konnte sich solch ein Denken wie das klassische europäische herausbilden, dem
sowohl das Denken der modernen Physik als auch das chinesische Denken unfassbar
erscheinen? Mit dieser Fragestellung stoßen wir auf den Zusammenhang, dem der
Satz Zeit ist Geld seine Wahrheit und seine tiefere Unwahrheit verdankt: der
spezifisch europäische klassische Zeitbegriff entstammt denselben Wurzeln wie
das Geld.
Aber
gehen wir der Reihenfolge nach vor: was sagt die klassische Phalanx von
Kantscher Philosophie und Newtonscher Physik (von der sich kein Gymnasiast so
richtig je wieder erholt), was sagt die moderne Physik und wie verhält sich das
zur chinesischen Philosophie?
Abstraktion,
Scheidung, Synthese
Die
angezeigte eigentümliche Zeitstruktur ist eingebettet in die Philosophie Kants.
Unter den zahlreichen philosophischen Schulen Europas ist Kant für unsere
Zwecke bedeutsam, nicht nur, weil er die Grundlagen für das Denken legte, das
die Naturwissenschaften auszeichnet, sondern weil seine Weise des Denkens
wichtige Elemente enthält, die sich in den Köpfen auch noch der meisten
heutigen Menschen wiederfinden lassen (was sich über Hegel und Heidegger so
nicht behaupten läßt). Kant stützte sich auf das ausformulierte Denken Newtons,
der wiederum das abstrakte Denken widerspiegelte, das bei den antiken Griechen
seinen Ausgangspunkt nahm. Diese enge Geschwisterschaft der Kantschen
Philosophie mit der klassischen Physik ist wichtig, weil die Kündigung dieser
Verwandtschaft durch die Physik den Dreh- und Angelpunkt unserer Überlegungen
bilden wird.
Wesentliche
Grundlage des Kantschen Denkens ist die Abstraktion, die ihrerseits wesentlich
mit einer Scheidung der Quantität von der Qualität verknüpft ist. Trennung im
Sinne von Scheidung ist das Charakteristikum dieser Philosophie.
In
dieser Philosophie ist Zeit vom Raum getrennt und nurmehr reine Zahl. Die
eigentümliche Gliederung der Zeit in sich selbst stets äquivalente Abschnitte sorgt
für ihre Meßbarkeit. Es ist eine Zeit ohne Anfang und Ende.
Mit
demselben Strickmuster wird der Raum erfasst. Der Raum setzt sich nicht aus
Dingen zusammen, er ist vielmehr von allen Dingen geschieden. Er ist als
getrennt von der Zeit konzipiert, d.h. er ist zeitlos, immer anwesend,
unbeweglich, ohne zeitliches oder räumliches Ende. Raum ist in diesem Konzept
die unbewegliche Bühne, auf der sich alles abspielt. Dieser Raum erstreckt sich
gleichmäßig, eine niemals endende gleichförmige Abfolge von Intervallen, eines
dem anderen äquivalent. Diese Struktur ist es, die auch den Raum meßbar macht,
auch er wird zur puren Zahl.
Die
Welt im Sinne der Physik wird nun beschrieben als abstrakte Bewegung abstrakter
Körper in einem abstrakten Raum. Scheidung der Quantität von der Qualität wurde
zur Grundlage des Programms einer Quantifizierung, dem die Genauigkeit zum
grundlegenden Maßstab werden sollte. Alles in der Physik muß durch meßbare
Zahlen ausgedrückt werden können.
Die
Welt im Kantschen Denken ist geschieden in Subjekt und Objekt; der Mensch wird
zum Subjekt, das eine „objektive“ Distanz zu den Dingen einnimmt. Alle Dinge
werden zu Objekten dieses distanzierten Blicks. Der Mensch wird von den Dingen
getrennt.
Aber
Scheidung ist nicht alles. Zwar wird alles – Zeit, Raum, Dinge, Subjekt, Objekt
– vom jeweils anderen getrennt. Insofern jedoch alles abstrakt und
quantifizierbar wird, wird es äquivalent zu allem Anderen, d.h. es wird zur
Basis einer Synthese, die nun durch die Ja/Nein-Logik vermittelt wird. Es ist
dies die Weise, wie die Kantsche Philosophie das Procedere des
naturwissenschaftlichen Denkens ermöglicht: trennen - quantifizieren –
synthetisieren mithilfe der Ja/Nein-Logik.
Die
Genauigkeit der Zahlen spielt eine wichtige Rolle: sie ermöglicht es den
Naturwissenschaften, Zusammenhänge aufzuspüren.
Die
Abstraktion ermöglicht es, alles mit allem in Beziehung zu setzen. Und sie ermöglicht
den wichtigen Anspruch auf Universalität. Kant bezeichnet diese universale Zeit
und den zugehörigen Raum als ein „a priori“, ein zeitlos und geschichtslos
Vorgegebenes für alle Menschen, inclusive der chinesischen. Und auch bei Platon
(428-348 BC) war bereits ein ähnlicher Gedanke aufgetaucht: der Gedanke der unkörperlichen
parallelen Existenz einer abstrakten Welt neben und unabhängig von der körperlichen
Welt.
Traditionelle
chinesische Philosophie
Traditionelle
chinesische Philosophie nutzte statt einer Ja/Nein-Logik das Prinzip des
Yin-Yang, das von einer grundlegenden und unauflösbaren Verbundenheit alles und
jeden ausgeht.
Raum,
Zeit, Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Dynastien, Farben, Töne formen ein
Ganzes, das vermittels Emblemen angesprochen werden kann (Granet, 1985) .
Diese
alte Philosophie kennt keinerlei Konzept einer abstrakten Zeit. Es existiert
kein kontinuierlicher Fluss einer universalen Zeit. Die Zeit zeigt Brüche. Sie
ist zersplittert in Dynastien, und in jeder Dynastie war es die Aufgabe des
Herrschers, Raum und Zeit neu zu erzeugen. Zeit war nicht unabhängig von der
Gesellschaft. Keinerlei Äquivalenz zwischen verschiedenen Zeitabschnitten
existierte.
Es
existierte auch keinerlei Konzept eines abstrakten Raumes. Und schon garnicht
eine Äquivalenz zwischen verschiedenen Raumabschnitten. Der Raum verdichtete
sich vielmehr im Zentrum, wo der Herrscher residierte, und er verdünnte sich
nach den Rändern hin, der Peripherie, wo die unzivilisierten Barbaren lebten.
Im
alten China gab es Philosophen, die sich leidenschaftlich mit Zahlen beschäftigten.
Das alte China kannte nicht nur ein Zahlsystem, sondern derer drei - zwei
dezimale (auf der 10 basierend) und ein duodezimales (auf der 12 basierend) .
Sie wurden benutzt, um vielfältige, ihnen wichtige Verbindungen zwischen
Himmel, Erde und Gesellschaft zu repräsentieren. Nie aber (von ganz wenigen Ausnahmen
abgesehen) entwickelten die Gelehrten des alten China irgendein Interesse an
der Genauigkeit von Zahlen.
Im
Gegenteil: das philosophische, auch in der Musik verwendete Konzept dă pǔ 打谱 begreift Unschärfe als ein grundlegendes
Prinzip. Nie wird den chinesischen Musikern von den Komponisten ein Takt
vorgegeben im Sinne der Orientierung an einer abstrakten Zeit. Stattdessen
findet in chinesischen Orchestern eine Synchronisation über den jeweiligen
musikalischen Inhalt der Performance statt.
Quantität
läßt sich im alten China nicht von Qualität trennen. Schon sprachlich
signalisiert sich die enge Verbindung der Qualität zhìliàng 质量 mit der Quantität liàng 量.
Noch
im heutigen China sind die lìangcì 量词 gebräuchlich,
Zählwörter, über die grundsätzlich jeder Zahl eine qualitative Bestimmung
zugeordnet werden muß (Wang 1999). Es ist dies dasselbe Phänomen wie im frühen
Griechenland, wo vor dem Übergang zur abstrakten Zahl diese stets mit einer
Qualität verknüpft war. Wenn dort über 10 Schafe oder 10 Pferde geredet wurde,
hatten die beiden Zehnen nichts miteinander gemein. Die eine war eine sog.
Schafzahl, die andere eine Pferdezahl.
Größer
könnte man sich den Unterschied zwischen beiden Philosophien kaum vorstellen,
und die Frage stellt sich: wo nimmt diese Differenz ihren Ausgangspunkt? Einen
wichtigen Anhaltspunkt liefert die moderne Physik! Gerade weil sie so eng mit
der Philosophie Kants verbunden war, liefert die ungestüme Aufkündigung dieser
Verwandtschaft durch die Physik wichtige Hinweise.
Revolution
in der Physik
Zu
Beginn des 20ten Jahrhunderts fand in der Physik eine Revolution statt. 1900
wurde von Max-Planck die Quantentheorie begründet. 1905 entwickelte Einstein
die Spezielle und 1916 die Allgemeine Relativitätstheorie. Und 1925 schließlich
wurden von Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg die Grundlagen der Quantenmechanik
gelegt.
Das
klassische, von Newton und Kant exerzierte Denken wurde abgelöst durch ein
revolutionäres neues Denken. Aber dieses neue Denken ist nicht neu. In
erstaunlicher Weise stellt sich eine nahezu 1:1 Korrespondenz mit den
Grundlagen des alten chinesischen Denkens heraus. Die moderne Physik
favorisiert wie die traditionelle chinesische Philosophie in grundlegender
Weise den Zusammenhang gegenüber jeder Scheidung und gibt in charakteristischer
Weise der Unschärfe den Vorrang gegenüber jeder Genauigkeit.
Ich
möchte das im Einzelnen erläutern:
Gemäß
der Speziellen Relativitätstheorie ist grundsätzlich keine Trennung von Raum
und Zeit möglich. Beide verschmelzen zu einer „Raumzeit“, die eine unauflösbare
Verbundenheit signalisiert. Je nach Bewegungszustand gehen räumliche und
zeitliche Anteile dieser Raumzeit ineinander über.
Keinerlei
gleichförmige, universale Zeit existiert, die Zeit zersplittert in „Eigenzeiten“.
Das
Zwillingsparadoxon - das nur in der alten Anschauung ein Paradoxon ist -
besagt, dass eine Zwillingsschwester, die von einer Reise
mit einer sehr schnellen Rakete (nahe Lichtgeschwindigkeit) zurückkehrt, ihren
Zwillingsbruder und seine gesamte Welt um z.B. 60 Jahre gealtert vorfindet, während
sie selbst erst um zwei Jahre gealtert ist. Sie, die die Vorreiterin der
technischen Zivilisation war und jung geblieben ist, ist nun gegenüber dem
zwischenzeitlichen technischen Fortschritt hoffnungslos
veraltet und findet sich nicht mehr zurecht.
Das
Konzept der Eigenzeit beinhaltet einen Bruch in der Zeit. Grundlage des
Zwillingsparadoxons ist die Einsicht in die Unmöglichkeit, die Gleichzeitigkeit
einer universalen Zeit zu konstruieren. Der Zeitpunkt, zu dem der eine Zwilling
sein Bezugssystem wechselt, wird im neuen Bezugssystem nicht als gleichzeitig
wahrgenommen, sondern weist einen Sprung auf. Die Dekonstruktion einer
universalen Zeit bedeutet eine große Annäherung an chinesische Vorstellungen.
Der Bruch der Zeit etabliert eine verblüffend analoge Situation zu dem
Zeitbruch zwischen Dynastien, wie er in der chinesischen Philosophie
vorausgesetzt wird.
Für
Einstein gibt es keine Zeit neben und außerhalb der Synchronisation von Uhren.
Zeit ist der Gang der Uhren, das war der entscheidende philosophische Schritt,
den Einstein seinen Zeitgenossen wie Lorentz und Poincaré voraus hatte (Will
2005,5). Da Synchronisieren ein Tun ist, bekommt die Zeit eine gesellschaftliche
Qualität. Einstein trifft sich hierin nicht nur mit dem Soziologen Norbert
Elias, der 1988 in seinem berühmten Essay „Über die Zeit“ herausarbeitete, daß
Zeit eine symbolische Form ist, deren wesentlicher Inhalt in der
Synchronisation sozialer Aktivitäten besteht. Die Nähe zu den traditionellen
chinesischen Vorstellungen, die der Zeit eine gesellschaftliche Dimension
zuweisen, ist unverkennbar.
Die
Allgemeine Relativitätstheorie stellt fest, daß keine Scheidung zwischen der
Raumzeit und den Objekten möglich ist. Je massiver Objekte (Sterne, Galaxien,
schwarze Löcher) sind, desto mehr verlangsamen sie die Zeit. Raum und Zeit sind
nicht gleichförmig, sondern verdichten oder verdünnen sich, da die Massen der
Objekte eine Krümmung der Raumzeit verursachen. Dieses Verdichten und Verdünnen
ist grundlegendes Merkmal der chinesischen Raumvorstellung.
Im
Rahmen der Quantentheorie ist keine Ja/Nein-Logik, keine Selektion nach
entweder-oder möglich. Die klassischen Objekte werden durch eine Wellenfunktion
ersetzt, die die Überlagerung von Möglichkeiten repräsentiert. Genauigkeit wird
somit durch ein Prinzip der Unschärfe ersetzt.
Die
Quantenmechanik läßt prinzipiell keine Möglichkeit zu, ein Objekt unabhängig
von seinem Beobachter zu definieren. Die Zuweisung von Eigenschaften hängt von
der Messung ab, die diese Eigenschaften messen soll. Auch die Scheidung eines
Objekts von seinem Beobachter stellt sich also als unmöglich heraus.
Die
Messung, der grundlegende Pfeiler der klassischen Theorie mitsamt der mit ihr
verknüpften Genauigkeit, wird nun zum grundlegenden Problem. Der sog. Kollaps
der Wellenfunktion bei der Messung zählt zu den bis heute ungelösten Problemen
der Quantentheorie. Eine Messung zerstört die Wellenfunktion, indem sie genau
eine Möglichkeit auswählt. Das Resultat der Messgröße mag dann exakt sein, aber
physikalische Zustände sind alles andere als exakt. Die Unschärferelation von
Heisenberg postuliert, daß alle Objekte nur innerhalb einer Unschärfe bestimmbar
sind. Vor einer Messung sind die Objekte – im Gegensatz zur klassischen
Vorstellung – prinzipiell unbestimmt, einprägsam dokumentiert durch Schrödingers
Katze. Nach einer Messung – z.B. von Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens –
finden wir, daß entweder der Ort oder die Geschwindigkeit des Teilchens einen
exakten Wert hat, aber nicht beide zugleich.
Nur
von einem klassischen Standpunkt aus, dem Genauigkeit zur obersten Maxime
geworden ist, erscheint die Unschärfe als ein Moment der Einschränkung. Alle Möglichkeiten
solange als möglich offen zu halten – ein Schlüsselelement chinesischen
Vorgehens – entpuppt sich jedoch als ein tiefliegenden Erfordernis der
Quantenmechanik, denn just die Fähigkeit zur Überlagerung und Interferenz aller
Möglichkeiten, die Grundlage der Unschärfe, führt auf die faszinierenden neuen
Resultate, die die Quantenmechanik erzielt. Beispiele sind die sog. Entanglement-Experimente,
die vermutlich in Bälde zur Grundlage neuer kryptografischer Verschlüsselungsmethoden
reifen werden. Die tiefliegende Bedeutung der Unschärfe entspricht der Art, wie
das Prinzip dă pǔ 打谱 in
der chinesischen Philosophie und Musik die Unschärfe betont.
Als
erstaunliches und faszinierendes Resultat können wir eine tiefe innere
Korrespondenz der neuen Grundlagen der modernen Physik mit den Grundlagen des
traditionellen chinesischen Denkens konstatieren. Die neue Theorie gehorcht
einer Philosophie der Unschärfe und der grundsätzlichen Verbundenheit.
Umkehrung
der Fragestellung
Ein
wesentlicher Wechsel unseres Gesichtswinkels drängt sich auf. Ein klassischer
Europäer tendiert dazu zu fragen: wie konnte es dazu kommen, daß eine so
unglaubliche Theorie wie die Spezielle Relativitätstheorie sich überhaupt
entwickelte? Er benutzt den Geniebegriff, um das für ihn Unfassbare der
Einsteinschen Theorie auszudrücken. Ein fiktiver traditioneller Chinese könnte
erwidern: warum habt ihr überhaupt Raum und Zeit getrennt? Ist es ein Wunder,
daß ihr jetzt Schwierigkeiten habt, das unter einen Hut zu bringen?
Dem
klassischen europäischen Denken erscheinen die moderne Physik wie auch das
chinesische Denken gleichermaßen fremd und unbegreiflich. Aber im Umkehrschluss
können und müssen wir fragen: was für ein seltsames Denken ist es, dem sowohl
die moderne Physik als auch das chinesische Denken so unfassbar erscheinen?
Wir
sind gezwungen zu fragen: wann und warum entwickelte sich dieses merkwürdige
klassische europäische Denken?
Die
Sohn-Rethel'sche Vermutung
Wenn
wir uns mit der Struktur des Denkens und seiner Entstehung beschäftigen, ist es
wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß wir nicht über etwas reden, das zum
Objekt des Denkens wird. Das würde immer schon das Denken als gegeben
voraussetzen. Was bei seiner Bildung die Struktur des Denkens bestimmt, muss
selbst seinen Ort außerhalb dieses Denkens haben.
Die
Antwort auf unsere Frage ist - mit hoher Plausibilität - in einer Vermutung zu
finden, die von Alfred Sohn-Rethel im Anschluß an Heideggers Sein und Zeit
formuliert und 1971 publiziert wurde. Gemäß seiner Theorie scheint das
abstrakte europäische Denken seine Existenz einer tiefreichenden Abstraktion zu
verdanken, die im realen Austausch von Waren statt findet.
Der
Satz Zeit ist Geld weist in die richtige Richtung, auch wenn er nur die Oberfläche
streift. Was Sohn-Rethel als tiefgründige Theorie formulierte, soll uns hier
nur als phänomenologischer Leitfaden dienen, an dem sich unsere Lust am
Assoziieren, am Erkennen und Wiedererkenne delektieren kann, ohne sich zu
theoretisch den Kopf zerbrechen zu müssen.
Die
Gesellschaften, in denen die Gleichung Zeit ist Geld in Szene gesetzt wird,
sind warenproduzierende Gesellschaften, definiert darüber, daß sie nicht für
den Gebrauch, sondern den Tausch produzieren. Im Tausch verbirgt und entdeckt
sich ein Paradox: ich tausche die Waren, weil sie ungleich sind, ja, das ist
der Antrieb, warum ich tausche; ich tausche sie aber für gleich: andernfalls
liefe es auf Übervorteilung oder gar Raub hinaus. Im Tausch werden die Waren
als gleichwertig, als äquivalent postuliert. Neben ihrem Gebrauchswert, der
sinnlichen Qualität, die mir bei einem Apfel das Wasser im Mund zusammen laufen
läßt, erscheint ein Tauschwert, der die getauschten Dinge äquivalent macht:
eine nur noch quantitativer Differenzierung fähige Größe, die jedes zu jedem in
numerische Relation setzt.
In
keiner Fiber, keinem Gran ihrer Stofflichkeit sind die tatsächlichen Waren
einander gleich. Der Tauschwert ist keine materielle Größe, er ist reine
Abstraktion. Sohn-Rethel bezeichnet ihn als Realabstraktion, die ihren Sitz
nicht im Kopf hat, wo alle klassische Philosophie die Abstraktion vermutet,
sondern die hinter dem Rücken der Tauschenden, in ihrem Tun stattfindet. In der
Aufspaltung der Waren in Gebrauchswert und Tauschwert findet sich die Ablösung der
Qualität von der Quantität, die kennzeichnend für das europäische abstrakte
Denken ist, und die sich als Methode der Naturwissenschaften etablierte.
Sohn-Rethels nicht ganz, aber, wie Hörisch zeigt, nahezu komplett durchgeführte
These besagt, daß in der Tauschabstraktion alle Kategorien und Schemata
verborgen und geborgen sind, die das europäische rationale Denken nach Kant
charakterisieren.
Das
Geld repräsentiert den Tauschwert, wie er - nach einer Jahrtausende währenden
Entwicklung, in deren Verlauf er verschiedensten Gebrauchswerten wie dem Salz,
Kühen oder Gold eine bevorzugte Stellung zuwies - sich schließlich vom
Gebrauchswert emanzipierte.
Die
antike griechische Gesellschaft war eine auf Geld beruhende Gesellschaft, so
sehr, daß bereits bei Aristoteles der Topos der vehementen Geldkritik
anzutreffen ist, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Mittelalter bis
tief in die Neuzeit hindurchziehen sollte. Es ist nach Sohn-Rethel kein Zufall,
daß das Auftreten der Vorsokratiker, der ersten Vorläufer der rationalen
Denkungsart, zusammen fällt mit der ersten Münzprägung Europas.
Der
Tauschwert ist das, was in all dem Wechsel der sinnlichen Vielfalt der
getauschten Waren sich selbst stets äquivalent bleibt. Er ist das per
definitionem Unveränderliche.
Die
griechische Philosophie war fasziniert vom abstrakten Unveränderlichen, so
sehr, daß den Neuplatonikern das Unveränderliche zum Inbegriff des Göttlichen
wurde und seine Abstraktheit die Gewähr für das wahrhaft Seiende.
Die
Herausbildung der abstrakten linearen Zeit
In
diese historische Zeit fällt der Übergang des Zeitbegriffs von einer Zeit des
Tuns zu einem Tun der Zeit. Aus einer mit Qualität verbundenen Zeit - einer
Zeit der Trauer oder der Zeit der Ernte - wurde eine abstrakte Zeit, die den ontologischen
Status entwickelte, der ihr heute zugemessen wird, wenn wir sagen: die Zeit
verrinnt, die Zeit vergeht, gleich als wenn wir sagten: der Regen tropft. Mit
Aristoteles vollendete sich die Herausbildung der abstrakten Zeit: Zeit ist nun
die Zahl an der Bewegung. Aus dem symbolischen Zeitbegriff, benutzt, um die Tätigkeiten
der Menschen zu synchronisieren, wurde eine abstrakte lineare Skala, auf der
sich das Vorher und das Nachher in unaufhörlicher Wiederholung reihte. Was trieb
diese Entwicklung an?
Die
Münze markierte nicht nur die Materialisierung eines Beständigen, dessen es für
die Herausbildung eines linearen Zeitbegriffs bedarf. Indem sie von Hand zu
Hand ging, markierte sie auch ein zeitliches Nacheinander der sinnlichen
Vielfalt der durch sie getauschten Waren. Diese temporale Veränderung entlang
einer Münze hat die Struktur einer ständigen Wiederholung des immer gleichen,
sich selbst äquivalenten Schrittes: des Tauschaktes. Es ist dies die
Zeitstruktur des europäisch-rationalen Denkens, die sich als eine Folge sich
selbst stets äquivalenter Zeitschritte inszenierte und damit das erwarb, was
als Translationsinvarianz zum Fundament Newtonscher Physik wurde. Im Rahmen der
Sohn-Rethelschen Vermutung können wir die Behauptung wagen: die spezifische
Struktur des klassischen europäischen Zeitbegriffs ist vom Geld bestimmt.
Die
Grundlage der Ja/Nein-Logik
Die
Basis des Tauschs ist das private Eigentum. Ohne ein Bewußtsein von Mein-und-nicht-Dein
ist kein Tausch möglich. Das private Eigentum setzt mit dem Exklusionsprinzip
des Mein-und-nicht-Dein die fundamentale Trennung der Gesellschaft in solipsistische
(solus ipse - jeder für sich) Privateigentümer in Kraft, die den Tausch als gesellschaftliche
Synthesis ausweist, die in Anlehnung an Kant die Strukturen des Denkens zu
konstituieren in der Lage ist. Und so wie mit dem Tausch die Abstraktheit als
Trennung von Qualität und Quantität Einzug hält, so kommt mit seiner Grundlage
- dem privaten Eigentum und seinem Exklusionsprinzip - die Logik des
Mein-und-nicht-Dein in die Welt, eine Logik des strikten Ja oder Nein: Tertium
non datur.
Das
Punktförmige dieser Logik spiegelt sich in der Zeitvorstellung. Wie der Tausch
ein wohldefiniertes Vorher und Nachher kennt - vor dem Tausch gehört die Ware
dem Verkäufer, nachher gehört sie mir, ein Vorher und Nachher, das einzig durch
den zeitlich und logisch punktförmigen Akt des abstrakten Eigentumswechsels
sowohl getrennt als auch verbunden ist -, so kennt der neu entstehende lineare
Zeitbegriff zwar eine wohldefinierte Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart
jedoch, diese lustvolle Existenz unserer Körper, gerinnt auf dieser Skala zum
logischen Punkt, dessen einzige Funktion ist, Vergangenheit und Zukunft zu
trennen.
Eine
absurde Konstruktion, die nur dort Bestand hat, wo die logische Exklusion des
privaten Eigentums zur selbstverständlichen Praxis des gesellschaftlichen
Verkehrs gehört. Ihrer Absurdität ist zu danken, daß bei Aristoteles, der doch
dem Denken des Parmenides und seiner zweiwertigen Logik - das Sein ist, das Nichtsein
ist nicht - zum Durchbruch verholfen hat, die schönsten dialektischen
Formulierungen zu finden sind, wenn er das Jetzt beschreibt, das sich als
zeitliche Bestimmung mit all der ihm eigenen Fülle so dagegen sträubt, unter
sein Diktum Zeit ist die Zahl an der Bewegung zu fallen.
Parallelwelten
Scheidung
ist die Basis der warenproduzierenden Gesellschaft, Scheidung des Mein-und-nicht-Dein
und Scheidung der Qualität von der Quantität. Und so wie der Tausch die
Synthese dieser in Privateigentümer gespaltenen Gesellschaft bewirkt, indem er
alle sinnlichen Dinge über ihre abstrakten Wertkörper der Äquivalenz zuführt
und solcherart untereinander kompatibel macht im Medium des Geldes, so konstituiert
die Naturwissenschaft eine Parallelwelt, indem sie der sinnlichen Welt die
abstrakte Welt beigesellt, die nurmehr rein quantitativer Differenzierung fähig
ist, sodaß alle Dinge einander kompatibel werden im Medium der Ja/Nein-Logik.
So wie der Markt die Vielfalt der sinnlichen Dinge als Waren in die einfache
Relation der Äquivalenz von jedem mit jedem vermittelt, so setzt die Naturwissenschaft
jedwedes sinnliche Ding als abstrakten Körper mit jedwedem anderen in Beziehung
über die logische Gleichheit ihrer Formeln.
Das
Hand in Hand gehen von Kantscher Philosophie, kapitalistischer Ökonomie und
Naturwissenschaft in der Neuzeit hat eine solide Basis in der
Tauschabstraktion, die für warenproduzierende Gesellschaften bestimmend ist.
Was
wir hier mittels ein paar phänomenologischer Hinweise skizziert haben, wurde
von Sohn-Rethel als attraktive und hoch-plausible Theorie ausgearbeitet, in der
er den Nachweis unternimmt, daß in einer Gesellschaft solipsistischer
Privateigentümer der Austausch von Waren die gesellschaftliche Synthesis und
mit ihr die Kategorien und Schemata konstituiert, die nach Kant für das
rationale Denken maßgeblich sind.
Die
Frage bleibt dann: warum konstituiert der Tausch rationales Denken in
Griechenland bzw. Europa, aber nicht in China? Die Antwort findet sich in der
verschiedenen sozio-ökonomischen Struktur beider Gesellschaften.
China
und das dem Mein-und-nicht-Dein Andere
In
China existierten Bedingungen, die notwendigerweise kollektive Aktivitäten
erforderten und dadurch letztendlich eine Dominanz der Repräsentanten des
Prinzips des Mein-und-nicht-Dein, der Großgrundbesitzer und Kaufleute,
verhinderten. Die Kultivierung von Reis erforderte große gemeinsame
Anstrengungen für Bewässerungssysteme, und großes kollektives Bemühen war
erforderlich, um eine aus Wasserkanälen bestehende Infrastruktur zu bauen und
instand zu halten. Um die Grenzen zu sichern, mußten umfangreiche Wallanlagen
gebaut und die Bereitstellung von Soldaten organisiert werden und natürlich mußte
ein Modus zur Finanzierung dieser Aktivitäten gefunden werden.
Solche
Bedingungen, die im Sinne einer Kohäsion wirksam sind und in China zur
Ausbildung einer mächtigen zentralen Bürokratie führten, existierten weder in
Griechenland noch später im feudalen Europa. Im Gegenteil: die Autonomie der Städte
entwickelte sich als deutliches Zeichen für die nahezu unbegrenzte Dominanz der
Kaufleute, nach Sohn-Rethel eine Vorbedingung für die Entwicklung eines durch Ökonomie
konstituierten Denkens.
Die
Geschichte Chinas dagegen läßt sich lesen als die Geschichte starker Konflikte
zwischen dem trennenden Prinzip des Mein-und-nicht-Dein – repräsentiert durch
Großgrundbesitzer und Kaufleute – und den kollektiven Erfordernissen, die in
China durch eine zentralisierte Bürokratie verkörpert wurden. China hat eine
lange Tradition schriftlicher Aufzeichnungen, die es erlauben, diese Konflikte
in großer Detailtreue nachzuzeichnen, wie das von Mark Elvin 1973 unternommen
wurde.
Die
Phasen großer Instabilität während der Periode der Drei Reiche (Sanguo, AD
220-265/80), der Periode der Nördlichen und Südlichen Dynastien (Nan-bei-chao,
AD 420-581) sowie der Periode der fünf Dynastien und zehn Königtümer
(Wudai-shiguo, AD 907-960) sind verknüpft mit starkem politischen Einfluß der
Großgrundbesitzer. Insbesondere in der letzteren Periode war China laut Elvin
nahe daran, den Weg Europas einzuschlagen, das in eine Vielzahl kleiner Staaten
zerfiel. Mit Beginn der Sung-Dynastie (AD 960) jedoch tauchen die Großgrundbesitzer
zunehmend integriert in leitenden Positionen in der Hierarchie der zentralen Bürokratie
auf. Elvin benutzt dafür die Bezeichnung Grundherrenregime ohne Feudalismus. Zu
Zeiten der Ming-Dynastie gar wurden die leitenden Positionen offiziell gemäß
dem abgeführten privaten Steueraufkommen verteilt. Das bedeutet: nie in seiner
Geschichte (ich vernachlässige die Phase der Mohisten) konnte China als
Exklusivgesellschaft solipsistischer Privateigentümer angesehen werden, deren
gesellschaftliche Synthesis über Tausch konstituiert wird. In Fortführung des
Denkansatzes von Sohn-Rethel ist dies ein Schlüsselelement für die Lösung des
Needham Problems, warum ein rationales Denken wie in Europa sich in China nicht
ausbilden konnte (Gruber 2009).
Die
Rolle des Geldes
Die
Entwicklung in China ist aufschlußreich, um sich über den Geltungsbereich der
Spruchweisheit Zeit ist Geld Aufschluß zu verschaffen. Sie demonstriert, daß
ein schneller Rückgriff auf die Rolle des Geldes voreilig sein kann. Obwohl in
Griechenland das erste Münzgeld Europas geprägt wurde, ist dieser Umstand für
sich genommen noch kein Indiz dafür, daß Griechenland der Status einer
warenproduzierenden Gesellschaft zukommt. Schlüssel für die Argumentation
Sohn-Rethels ist denn auch eine dominierende Rolle des Warenaustauschs in der
Synthesis der Gesellschaft und nicht das Auftreten von Geld allein. China kennt
eine lange Geschichte der Geldentwicklung. Es besaß die erste Papierwährung der
Welt, die gegen Ende des 11. Jahrhunderts sogar in ganz Nordchina verbreitet
war. Für eine Synthesis der Gesellschaft im Sinne Kants und mit den
Konsequenzen Sohn-Rethels liefert dieser Sachverhalt jedoch keine ausreichende
Basis. Die spezifisch europäische Zeitvorstellung mit ihrer gleichförmigen
Abfolge sich selbst äquivalenter Intervalle verdankt ihre Struktur dem Geld,
ja, aber nur aufgrund der gesellschaftlichen Dominanz des Warentausches.
Dissonanzen
Der
erstaunliche Sachverhalt, daß moderne Physik und traditionelles chinesisches
Denken auf den gleichen philosophischen Grundlagen aufbauen, geht einher mit
der Beobachtung, daß das klassische europäische Denken, dem diese Entwicklung
entsprungen ist, an einen Punkt gelangt ist, an dem es sich selbst nicht mehr
versteht. Sowohl das Denken der modernen Physik als auch das chinesische Denken
erscheinen ihm unbegreiflich. Dasselbe Phänomen läßt sich in der Musik
beobachten.
Die
traditionelle chinesische Musik kennt weder Harmonie noch Takt. Beides sind für
die europäische Musik charakteristische Konstrukte, die sich einer überaus
engen Verknüpfung der europäischen Musik mit Mathematik verdanken; eine Verknüpfung,
die auf denselben Zweig der griechischen Entwicklung zurück geht, wie er eben für
die Philosophie beschrieben wurde. Die Harmonie in der europäischen Musik
beruht auf der Genauigkeit von Zahlenverhältnissen, die damals nicht nur die
Definition der Tonintervalle bestimmten, sondern auch festlegten, was als
konsonant empfunden wurde. Der Takt hinwiederum beruht auf dem Konstrukt einer
abstrakten Zeit, die nach einer festen Grundeinheit unterteilt wurde, dem
chronos protos des Aristoxenus. Folglich kennt – nach dem oben Gesagten - die
chinesische Musik weder fixe Tonhöhen - als notwendige Voraussetzung, daß die
Zahlenverhältnisse ihre genaue Geltung entfalten können - noch eine Mehrstimmigkeit,
deren Voraussetzung die fixen Tonhöhen sind (Gruber 2011).
Nun
hat sich zeitlich parallel zur physikalischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
eine Revolution auch in der Musik abgespielt, als deren Ergebnis die
klassischen Konstrukte von Harmonie und Takt nicht nur keine Rolle mehr
spielen, sondern von den zeitgenössischen Komponisten gemieden werden . Das hat
zur Folge, daß dasselbe passiert wie in der Philosophie: das klassisch
geschulte europäische Ohr tut sich schwer, nicht nur mit der chinesischen
Musik, sondern auch mit der zeitgenössischen Musik nach 1910. Umgekehrt hat das
chinesische Hörvermögen nicht nur keine Schwierigkeiten mit der zeitgenösischen
europäischen Musik, es genießt mit großer Lust und Offenheit auch die
klassische europäische Musik, seien es italienische Arien oder deutsche oder
slawische Kunstlieder.
Einklang
Wenn
nun also dieser Strang des europäischen Denkens (denn es ist nur ein Strang,
denken wir an Heraklit, Hegel, Heidegger, Nietzsche oder die neuere französische
Philosophie) unvermutet und mental blockiert vor der chinesischen Haustüre
gelandet ist, so doch mit zwei riesigen Blumensträußen im Arm. Der eine beladen
mit der Fülle, Anmut und Lebendigkeit der europäischen klassischen Musik, die –
an ein mathematisches Konzept von Abstraktheit gebunden, das die Anstrengung
einer großen Vielzahl an Stimmungen forcierte - ihren Reichtum vielleicht auch
diesen vergeblichen, aber fruchtbaren Versuchen verdankt, das Pythagoräische
Komma zu bändigen. Der andere versehen mit der atemberaubenden Erklärungskraft,
die zu erreichen der Quantenfeldtheorie oder der Allgemeinen Relativitätstheorie
mithilfe der Mathematik gelingt - eine Erklärungskraft, die einem Physiker wie
mir den Atem stocken läßt. Vielleicht das Resultat eines fruchtbaren Zweifels,
der sich zu seiner Bändigung stets erneut der quantitativen Reproduzierbarkeit
seiner Ergebnisse vergewissern mußte.
Es
ist bizarr: kein CD-Player würde funktionieren ohne die Quantenmechanik. Kein
GPS würde seine notwendige Genauigkeit erreichen ohne die Allgemeine Relativitätstheorie.
Aber eingehüllt in den Glanz dieser Technik, die ein Leuchten in die Augen der
chinesischen Jugend bringt, segelt die alte Ja/Nein-Logik mit, als stolze
private Eigentümerin dieser Errungenschaften, die sich in jedem Akt des Kaufens
oder Nichtkaufens stets aufs Neue legitimiert. Eine Ja/Nein-Logik, die nicht
nur die Revolution von 1917, sondern auch die Revolution von 1900 unbeschadet überstanden
hat! Grund zur Besorgnis? Das Gegenteil ist auch falsch.
Literatur:
Elias,Norbert, Über die Zeit, suhrkamp, Frankfurt a.M. 1988 (1984) Elvin,Mark,
The Pattern of the Chinese Past, Stanford University Press,Stanford 1973
Granet,Marcel, Das chinesische Denken, Inhalt-Form-Charakter,
Suhrkamp,Frankfurt a.M.1985 (Orig. 1934) Gruber,Rainer,Wang,Li, Über den
Unterschied der chinesischen und europäischen Musik, Vortrag v. 25.5.2011 am
Musik Department der Beijing Normal University, Beijing, China (2011, to be
published) Gruber,Rainer, Zeit und Geld – Zufallsbekannte oder
Herkunftsverwandte, Das Gleiche des Ungleichen, Theoriereihe 2009 des
Staatstheaters Oldenburg, Oldenburg 2009 Hörisch,Jochen, Kopf oder Zahl. Die
Poesie des Geldes, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1998 (1996) Wang,Huanqian, Über die
Zählwörter im Chinesischen, Sinolingua , Beijing 1999 Sohn-Rethel, Alfred,
Geistige und körperliche Arbeit, Suhrkamp, Frankfurt/M 1971 Will,Clifford, http://arxiv.org/pdf/gr-qc/0504085v1 (letzt.Aufruf 9.6.2011)
Von
Dr. Rainer Gruber, Professor der Physik, getroffen am 31 August 2013